Polens Verfassungsgericht hat erklärt, dass EU-Recht keinen Vorrang mehr vor polnischen Gesetzen hat. Damit schert das Land aus der gemeinsamen Rechtsordnung aus. In Brüssel sieht man eine rote Linie überschritten.
Schon seit Monaten hatte die EU auf einen Entscheid des polnischen Verfassungsgerichts gewartet und sich auf das Schlimmste eingestellt. Doch nachdem am Donnerstagnachmittag, Punkt 17 Uhr 15, die Richterinnen und Richter des Trybunal Konstytucyjny in Warschau tatsächlich zusammengetreten waren, wirkte das politische Brüssel dennoch wie aus allen Wolken gefallen.
In einem beispiellosen Urteilsspruch haben die polnischen Verfassungshüter erklärt, dass wesentliche Teile der europäischen Verträge nicht in Einklang mit der polnischen Verfassung seien. Polnisches Recht müsse grundsätzlich Vorrang vor EU-Recht haben. Jeder Versuch des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), sich in Polens Justizwesen einzumischen, heisst es aus Warschau, verstosse gegen «die Regel, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration bewahrt» bleibe.
Hat Polen damit hochoffiziell seinen Ausstieg aus der Rechtsordnung der EU deklariert?
«Ich bin darüber mehr als beunruhigt», sagte der zuständige EU-Kommissar Didier Reynders am Rande eines Treffens der EU-Justizminister am Donnerstag in Luxemburg. Man werde, so erklärte Reynders sichtlich aufgewühlt, «alle verfügbaren Werkzeuge nutzen, um sicherzustellen, dass die Grundprinzipien der Europäischen Union gewahrt werden». Der Vorrang von europäischem Recht gegenüber nationalem Recht gehöre für ihn selbstverständlich zu diesen Prinzipien. Genauso wie die Norm, dass alle Urteile des EuGH verbindlich seien für alle Gerichte in den Mitgliedstaaten.
Ob der polnische Richterspruch finanzielle Konsequenzen für Warschau haben werde, liess Reynders offen. Der Belgier verwies gleichwohl auf die «laufenden Diskussionen» über die Mittel aus dem Corona-Aufbaufonds, welche die Kommission bisher für Polen nicht freigegeben hat. Auch werde man, so Reynders, nun ein Verfahren zum Schutz des EU-Haushalts einleiten. Dass für die polnische Regierung dadurch finanzielle Mittel aus dem regulären Haushalt gesperrt werden, liegt auf der Hand.
Noch am Abend erklärte die Kommission schriftlich, dass sie «nicht zögern» werde, ihre «vertraglichen Befugnisse einzusetzen, um die Integrität des Unionsrechts und seine einheitliche Anwendung zu sichern». Man werde das Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs eingehend analysieren und über die nächsten Schritte entscheiden, hiess es. Die EU sei eine «Gemeinschaft der Werte und des Rechts».
Welche Schritte nun erfolgen, buchstabierte die Behörde allerdings nicht aus. Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die am Freitag ihre «tiefe Besorgnis» zum Ausdruck gab, wollte nicht konkretisieren, wie Brüssel zu kontern gedenkt.
Umso schärfer meldete sich der Präsident des Europaparlaments David Sassoli zu Wort. «Der Vorrang von EU-Recht muss unbestritten sein. Ihn zu verletzen, bedeutet, eines der Gründungsprinzipien unserer Union infrage zu stellen», schrieb der Italiener auf Twitter. Die EU-Kommission müsse nun umgehend Konsequenzen ziehen.
«Das Urteil hat historische Ausmasse», sagte die sozialdemokratische Vizepräsidentin des Europaparlaments und frühere deutsche Justizministerin Katarina Barley. «Durch das Urteil steht Polen mit beiden Beinen ausserhalb der europäischen Rechtsordnung. Es ist nicht zu rechtfertigen, in einer solchen Lage europäisches Geld an die polnische Regierung auszuzahlen.» Von einem «Angriff auf die EU als Ganzes» sprach der niederländische Christlichdemokrat Jeroen Lenaers. Es sei schwer, den Beteuerungen der polnischen Regierung zu glauben, dass sie überhaupt in der EU bleiben wolle: «Ihre Handlungen weisen in die entgegengesetzte Richtung.»
Der stellvertretende Vorsitzende im Rechtsausschuss, der deutsche Grüne Sergey Lagodinsky, bezeichnete die Entscheidung aus Warschau «als einen Schlag ins Gesicht der polnischen Bürger». Sie verlören damit den Schutz durch das EU-Recht. Der deutsche FDP-Europaabgeordnete Moritz Körner äusserte die Warnung, dass Polen nun in Richtung EU-Austritt schlafwandle: «Der Polexit ist nicht länger nur ein Hirngespinst der Rechtspopulisten in Polen, sondern leider reale Gefahr. Wer EU-Recht nur nach eigenem Gutdünken einhalten will, kann nicht Mitglied der EU bleiben.»
Tatsächlich hat die EU keine rechtliche Handhabe, ein Mitgliedsland aus der Gemeinschaft hinauszuwerfen. Einen «Polexit» müsste Warschau schon freiwillig beschliessen. Laut Meinungsumfragen will die überwältigende Mehrheit der Polen jedoch in der EU verbleiben. Auch der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki beteuerte am Freitag, dass sein Land nicht auf seinen «Platz in der europäischen Völkerfamilie» verzichten werde.
Morawiecki verwies auf seiner Facebook-Seite auf Entscheidungen der Gerichte anderer Länder, die ebenfalls den Grundsatz des Vorrangs von EU-Recht infrage gestellt hätten. Damit bezog sich der polnische Ministerpräsident ganz offensichtlich auf einen Entscheid des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das im vergangenen Jahr den Kauf von Anleihen durch die Europäische Zentralbank für rechtswidrig erklärt hatte. Die EU-Kommission leitete deswegen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein.
Allein, im deutschen Fall hatte das oberste Gericht über einen Einzelfall geurteilt und keineswegs den generellen Vorrang des EU-Rechts infrage gestellt.
Zu erwarten ist, dass Brüssel vorerst den üblichen Rechtsweg beschreiten wird – es könnte beispielsweise versuchen, das schon seit Jahren sich dahinschleppende Artikel-7-Verfahren zu beschleunigen. Mit dieser Vorschrift wird ein schwerwiegender Bruch der Rechtsstaatlichkeit festgestellt, der zum Entzug der Stimmrechte eines Mitgliedslandes führen kann. Bisher haben die europäischen Institutionen und Mitgliedsländer einen solchen Showdown mit Polen stets vermieden. Dies könnte sich nach dem widerspenstigen Richterspruch aus Warschau freilich ändern.
Dem Brüssel-Korrespondenten Daniel Steinvorth auf Twitter folgen.

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